Am Strand


Der Junge saß am Strand. Er genoss die Einsamkeit. Um ihn herum lärmten spielende Kinder. Andere Jungen in seinem Alter spielten Volleyball, flirteten mit Mädchen. Paare liefen Hand in Hand vorbei. Eine attraktive Frau, Mitte 20, breitete neben ihm ihr Handtuch aus. Aber dem Jungen war das alles egal. Er saß da, genoss Alleinsein und Sonne und träumte.

Der Tag zog dahin. Der Junge stand auf. Er hatte noch einiges zu erledigen. Am Wochenende war der Abschlussball. Bis dahin brauchte er noch adäquate Klamotten. Vor allem aber jemanden, der mit ihm hinging. Er fuhr sich durch das struppige blonde Haar. Die Partnerin für den Ball würde wohl die schwierigste Aufgabe sein. Er hatte es nicht so mit den Mädchen. Oh, es war nicht so, dass er Mädchen nicht mochte. Aber während die anderen Jungs mit einem Mädchen gingen – einige nicht mit dem Ersten, manche legten sich auch einfach nicht auf ein Mädchen fest – war er immer noch Single. Sehr zum Spott der anderen. Der Spott kümmerte ihn eigentlich nicht. Aber am Samstag war Abschlussball. OK, einen Schritt nach dem anderen.

Als er vom Strand fortging, bemerkt er ein Mädchen, das sich erfolglos darum bemühte, etwas aus einem Getränkeautomaten zu bekommen. Er blieb stehen und sah zu dem Mädchen rüber. Sie war ihm hin und wieder in der Schule über den Weg gelaufen. Er ging auf das Mädchen zu.

„Warte, ich helfe Dir.“ Der Jungen gab dem Automaten einen Tritt, woraufhin dieser eine Dose Coke light ausspuckte.

„Danke.“ Das Mädchen nahm die Dose, lächelte noch einmal dankbar und drehte sich um, im Begriff weiterzugehen.

„Ich bin Max.“, sagte der Junge. Es wirkte. Das Mädchen wandte sich ihm wieder zu. „Eigentlich Maximilian. Aber der Name ist zu lang.“

„Du bist aus dem Chemiekurs, habe ich recht?“

Jetzt fiel es ihm wieder ein. Sie war die Partnerin von Josie im Chemiekurs. Josie war Captain des Cheerleaderteams. Und naturwissenschaftlich nicht übermäßig begabt. Es war Wendy, die sie mehr oder weniger durchschleifte.

„Du bist Wendy, richtig? Josie Dencels Chemiepartnerin.“

„Ja.“ Wendy lächelte. Sie hatte keine Cheerleadermaße. Sie war nicht dick oder so. Aber bei Weitem nicht so dürr wie die Mädels, die am Rand des Footballfeldes rumturnten. Wendys Blick senkte sich unsicher. Hatte er sie nur erkannt, weil sie Josies Partnerin war?

Max war auch etwas nervös. Wendy war ein nettes Mädchen. Ihr Haar war haselnussbraun, ihre Augen glänzten blau wie Kupfersulfat. ‚Verdammt, warum denke ich an so was dämliches wie Chemie?‘

„Hast Du etwas Bestimmtes vor?“, fragte Max schnell, bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte. Wendys Augen blitzten ein wenig heller hinter ihrer schmalen Brille. Es lag offensichtlich nicht an Josie. Max hatte sie einfach im Kurs bemerkt und hier erkannt.

„Ich wollte meine Nase noch ein wenig in die Bücher stecken. Hier am Strand ist so viel los, in der Menge hat man immer die meiste Ruhe.“

„Was für Bücher?“, fragt Max.

„Hamlet.“ Hamlet. Dieser Dänenprinz, der sich so in seinen Rachegedanken vergaß, dass er am Ende alles verlor. Sogar sein Leben. Max versuchte es mit einem Scherz. „Ist das nicht der Bruder von Kotelett?“ Wendys Blick verfinsterte sich einen Augenblick, bis sie sah, dass Max sich keineswegs über sie lustig machte. Sie lachte. Ihr Lachen offenbarte eine kleine Lücke zwischen ihre oberen Schneidezähnen, die in Max‘ Augen irgendwie süß aussah.

„Darf ich Dir Gesellschaft leisten?“ Eigentlich hatte Max ohnehin keine Lust, mit seiner Mom Klamotten zu kaufen.

*

Sie saßen eine Weile am Strand und diskutierten über den Dänen. „Laertes ist ein Vollidiot.“ meinte Max. Wendy sah ihn interessiert an. „Wie meinst Du das? Er tut eigentlich nur, was man ihm sagt.“

„Eben darum ja! Er denkt nicht nach. Er handelt einfach, ohne sein Gehirn einzuschalten. überlässt das Denken anderen.“

„Hmmm.“, meinte Wendy. „Hast eigentlich recht. So habe ich es noch nicht betrachtet.“ Wendy sah Max an und grinste. „Und wer recht hat, gibt einen aus.“

„Eis?“, fragte Max.

Minuten später saßen sie an einer Strandbar vor einer halbierten Kokosnuss mit Eis, Sahne und Schokosoße. Eine für jeden natürlich. Die Sonne näherte sich langsam dem Horizont. Max zog kurz eine Braue hoch und sah auf die Uhr. „Verdammt!“

„Was ist?“, fragte Wendy.

„Ich muss kurz telefonieren. Entschuldige mich einen Augenblick.“ Max stand auf und ging zum Münzfernsprecher neben der Bar. ‚Er benutzt ein Münztelefon.‘, dachte Wendy. ‚Kein Handy wie die anderen Angeber. Und er hat was im Kopf. Ist charmant. Nicht so oberflächlich wie der Rest.‘

Nach nicht mal einer Minute kam Max mit erleichterter Miene zurück. „Alles OK?“, fragte Wendy. Max lächelte. „Ja. Alles OK. Meine Mom wollte mit mir heute eigentlich Klamotten kaufen gehen. Hab‘ es schnell mit ihr geklärt. Kein Problem.“

„Was hast Du ihr als Ausrede gesagt?“, fragte Wendy hintergründig lächelnd.

„Die Wahrheit“, kam als Antwort.

„Die Wahrheit?“

„Ja, die Wahrheit. Dass ich hier mit einem sehr netten Mädchen sitze und Eis esse. Sie hat es verstanden. Sie sagte, es ist kein Problem. Wir gehen morgen einkaufen. Es sei denn, ich würde lieber wieder mit einem netten Mädchen Eis essen.“

Wendy lachte auf, ihre Wangen röteten sich ein wenig. „Meinst Du das ernst?“, fragte sie.

„Was meinst Du?“ Max setzte den unschuldigsten Blick auf, zu dem er fähig war. Seine Fähigkeiten diesbezüglich waren begrenzt. Er wusste genau, was Wendy meinte. Und er wusste, dass sie wusste, dass er es wusste.

Wendy ging trotzdem auf die Frage ein. „Das mit dem sehr netten Mädchen.“

Die gespielte Unschuld wich aus Max‘ Blick, machte Ehrlichkeit platz. Er lächelte und sah Wendy tief in die Augen. „Klar meine ich das ernst.“

Ein Augenblick Stille legte sich über die beiden. Sie aßen ihr Eis, gedankenversunken, ab und zu auf- und sich gegenseitig anblickend. Nach einer Weile fragte Max mehr um die Stille zu überbrücken, ob Wendy wüsste, was ihr Name bedeutet. Sie wusste es nicht.

„Ich habe vor einer Weile ein Buch über alte englische Legenden gelesen. Naja, eigentlich nicht wirklich englisch. Eher walisisch und schottisch. In dem Buch tauchten immer wieder Elfen auf. Oft hießen sie Gwendolin. Ich dachte, der Name muss irgendeine Bedeutung haben, wenn er so oft auftaucht. Also habe ich im Internet nachgesehen. Wendy ist eine Abwandlung von Gwen. Kurz für Gwendolin. Und das heißt in etwa ‚Weiße Blume‘.“ Max machte eine kurze Pause. „Irgendwie komme ich mir jetzt wie ein Klugscheißer vor.“

„Vielleicht ein bisschen,“ kam die Antwort, „aber ich mag es. Weiße Blume? Klingt fast wie ein Indianername.“ Wendy lachte.

„Ich muss jetzt nach Hause. Danke für das Eis, Max.“ Wieder dieses Lächeln. Das Mädchen wandte sich um und ging.

Wendy war gerade zwei Schritte weit gekommen, als Max ihr hinterher rief. Sie blieb stehen. „Wendy!“ rief Max noch einmal. Er war aufgestanden. Wendy drehte sich um und sah Max in die Augen. Er wirkte etwas unsicher. „Ich, ähm, ich wollte fragen… Hast Du schon jemanden, mit dem Du am Samstag zum Abschlussball gehst?“ Puh, jetzt war es raus.

„Ja.“ Max‘ Blick wirkte ein bisschen niedergeschlagen. Er hatte beinahe damit gerechnet, aber…

Aber Wendy trat einen Schritt näher und fuhr fort: „Ja, ich habe schon jemanden. Dich. Wenn Du willst, meine ich. Ich ziehe etwas Weißes an. Passend zu meinem Namen.“ Immer noch dieses Lächeln.

*

Als Max‘ Mutter ihm die Tür öffnete, sah sie ihren Sohn über beide Ohren strahlen.