Begegnungen

 

Ich saß an der Bar, starrte auf ein Glas Wasser und fühlte mich beschissen. Eigentlich hätte ich das Wasser durch Hochprozentiges austauschen müssen. Aber mir war nicht danach, den Frust in kurzkettigen Alkanolen zu ertränken. Davon würde es auch nicht besser.

Ich wusste nicht, warum ich mich so beschissen fühlte, aber es war so. Gaby hatte mich mit einer alten Schulfreundin gesehen. Toni – die Freundin, eigentlich heißt sie Antonia – und ich saßen in einem Straßencafé, aßen Eis und sprachen über alte Zeiten. Mehr war nicht. Ich hatte Toni zufällig getroffen. Sie wohnt nicht mehr in Berlin, war nur geschäftlich hier. Als ich nach Hause kam, überraschte mich Gaby damit, dass sie uns in dem Straßencafé gesehen hatte. Wir hatten gelacht. Toni hatte mich in den Arm genommen. Zwischen uns lief doch was. So etwas hatte Gaby schon eine Weile vermutet.

Ja, verdammt, Toni hatte mich in den Arm genommen. Na und? Wir waren Freunde an der Schule. Wir hatten uns gefreut, uns wiederzusehen. Aber wir hatten nichts miteinander. Hatten wir nie. Ich war nie Tonis Typ. Aber macht das mal einer eifersüchtigen Freundin klar.

Diesmal war Gaby zu weit gegangen. Ich konnte das nicht mehr ertragen. Ich versuchte ihr zu erklären, was passiert war – nämlich nichts – aber Gaby hatte offenbar nicht vor, zuzuhören. Also ging ich. Wenn mir keiner zuhört, brauche ich auch nicht reden. Und dann kann ich auch irgendwo Ruhe suchen. Gaby rief mir noch hinterher, ich brauche gar nicht zurückzukommen. So war ich hier in der Hotelbar gelandet.

Ich hatte die Bar nicht bewusst ausgesucht, war einfach blind drauf losgelaufen und hier gelandet. Und jetzt saß ich hier vor einem Glas Wasser und alles, was ich noch hatte, war der Blues.

„Hi!“ Das war Tonis Stimme.

Ich war eigentlich nicht in der Stimmung für Gesellschaft. Aber wann traf man eine alte Freundin gleich zwei Mal am Tag?

„Hi Toni“, meinte ich. Ich glaube, ich konnte meine Niedergeschlagenheit nicht wirklich verbergen. Toni sah mich jedenfalls so an.

„Stimmt was nicht?“

Sag ich ja: Toni sah mir alles an.

„Meine Freundin Gaby hat uns vorhin gesehen“, antwortete ich. „Hat 'n ziemliches Fass aufgemacht.“

„Oh. Tut mir leid.“ Das glaubte ich ihr sogar. „Ich weiß nicht … Kann ich Dich auf 'nen Drink einladen? Ich meine, ich weiß, es ist lange her. Aber Du hast immer ein offenes Ohr für mich gehabt. Wird Zeit, was davon zurückzugeben.“

Ich lächelte. War nicht so, dass ich eine andere Wahl gehabt hätte, als zu lächeln. Ich nahm ein Bier. Nur das mit dem offenen Ohr ließ ich sein.

Also sprachen wir über uns. Toni arbeitete für eine Zeitung. Sie sollte eine Beitragsreihe über unsere schöne Hauptstadt schreiben. Sie war ledig, hübsch und erfolgreich. Irgendwie war Gabys Verhalten fast verständlich. Aber nur fast.

„Wie kommt’s, dass Du noch solo bist?“ Die Frage musste ich einfach stellen. Es gab nur drei Möglichkeiten: Entweder war die Männerwelt blind, da wo Toni wohnte, oder blöd. Oder es herrschte ein eklatanter Frauenüberschuss und die Männer waren alle schon weg.

„Mein Ex-Freund meinte“, antwortete Toni, „mein Job und die viele Zeit, die ich nicht zu Hause bin, würden sich nicht mit seinem Bild von einem Familienleben decken.“

„Häh?“, war mein erster spontan artikulierter Gedanke. „Was meint der? KKK? Küche, Kirche, Kinder?“

Toni lachte. „Nee, Kirche nicht unbedingt. Da geht der nicht mal zu Weihnachten hin. Und im Haushalt hat er auch mit angefasst. Kinder schon eher. Er ist wohl mehr der Typ, der etwas Beständiges braucht.“

„Bist Du so oft weg?“ Statt zu reden, wie Toni es mir angeboten hatte, fragte ich ihr Löcher in den Bauch. So einfach biegt man ein Gespräch von den unangenehmen Dingen weg.

„Ich bin hin und wieder lange im Büro“, erzählte meine Schulfreundin. „Ab und zu auch ein paar Tage weg. Aber nicht oft. Die langen Bürozeiten haben ihn wohl eher gestört.“

Man sagt mir nach, ein sehr verständnisvoller Mensch zu sein. Aber hier musste ich passen. „Dein Ex ist 'n Vollidiot, wenn Du mich fragst“, sprach ich Toni offen ins Gesicht. „Mag sein, dass lange Bürozeiten und so nicht optimal sind. Aber ich würde einfach jede Sekunde, die ich mit einer so tollen Frau verbringen kann, genießen.“

Bei der „tollen Frau“ wurde Toni rot. Sie senkte den Blick und lächelte. „Danke, Du Schmeichler“, sagte sie.

„Schmeichler?“ Ich spielte den Erstaunten. Wahrscheinlich nicht besonders gut. „Ich meine, was ich sage. Hey, erinnerst Du Dich noch an Oliver? Der in der Elften hinter Dir her war?“

Toni dachte kurz nach und brach dann in schallendes Gelächter aus. „Der Ärmste! Dachte, er kann bei mir landen.“

„Er war nicht der Einzige, wenn ich mich richtig erinnere.“

Wieder dieses scheue Lächeln in Tonis Gesicht. „Nein, Du warst der Einzige“, erinnerte sie sich. Vielmehr uns beide. „Du warst der Einzige, der es nie versucht hat. Aber auch der einzige echte Freund in der Klasse.“

Jetzt hatte sie mich in Verlegenheit gebracht. Toni und ich waren immer nur befreundet. Wir waren so sehr befreundet, dass mir der Gedanke, zwischen uns könnte, mehr sein, nie in den Sinn kam. Andererseits war mir plötzlich nicht mehr klar, was mich eigentlich abgehalten hatte, diesen Gedanken zu verfolgen. Toni ist und war eine klasse Frau. Optisch genauso wie unter der Oberfläche. Ich wollte meine Hand in ihre legen. Aber ich war nicht sicher, ob es richtig wäre.

Themenwechsel. Die Strategie sollte funktionieren. „Mir fällt gerade Herr Kessler ein. Der Mathelehrer.“

Ja, es funktionierte. Toni zog kurz die Brauen hoch, dann fiel es ihr wie Schuppen aus den Haaren: „Der immer ein bisschen durcheinander war? Du hast ihn mindestens siebenmal korrigiert, wenn er was an die Tafel geschrieben hatte.“

„Genau der“, sagte ich. „Hatte ja wirklich was drauf. Selbst die, denen Mathe nicht so lag haben bei ihm die binomischen Formeln kapiert. Aber irgendwie war er manchmal etwas schusselig. Hat Vorzeichen vergessen und Variablen vertauscht.“

„Stimmt“, meinte Toni, „das hat er in Physik aber wieder ausgeglichen. Ich weiß immer noch, wie die Braunsche Röhre funktioniert.“

„Die Braunsche Röhre!“ Erinnerungen wurden wach. „Oder Aufbau und Wirkungsweise des Viertakt-Ottomotors! Damit hat er uns ziemlich gequält.“

Toni lachte erneut. Dann wurde sie plötzlich ernst. „Warum hast Du es nie versucht?“

Mist. Hat doch nicht geklappt.

„Im Nachhinein … Ich weiß es selber nicht genau. Du warst meine beste Freundin. Die Frage hat sich einfach nie gestellt.“ Nein, die Frage stellte sich niemals. Jedenfalls nicht in unserer Schulzeit.

„Weißt Du“, begann Toni, „ich wohne direkt in diesem Hotel. Wir könnten hoch gehen und … Du weißt schon.“

Der Gedanke war verlockend. So hätte Gaby wenigstens einen Grund, eifersüchtig zu sein. Aber ist es richtig, Dinge zu tun, weil sie einem vorgeworfen werden? Ich hatte keine Ahnung, beschloss aber, die Antwort auf diese Frage später zu suchen.

Wir waren am Fahrstuhl angelangt, als sich die Frage nach der Richtigkeit erneut in den Vordergrund drängte. Mitsamt der Antwort: NEIN.

Ich nahm Tonis Hand und ging einen kleinen Schritt von ihr weg. „Hör zu Toni“, sagte ich, „Du bist eine tolle Frau. Wirklich. Jeder Mann, der Dich haben kann, ist ein glücklicher Mann. Aber ich kann das nicht.“

„Wegen Deiner Freundin?“

Tja, weswegen eigentlich?

„Auch. Wir haben uns gestritten, ja. Aber wir haben nicht Schluss gemacht. Ich liebe Gaby. Außerdem fühlt es sich nicht richtig an, mit Dir zu schlafen. Nicht in diesem Augenblick.“

Toni lächelte. Immer noch. Ihr Lächeln war so süß, dass sich jeder Zahnarzt darüber freuen müsste. Ich hatte damit gerechnet, dass sie mein Korb betrübt. Aber sie nahm einfach meine Hand, brachte mich zur Hoteltür und führte mich hindurch.

„Es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Noch nicht“, sagte sie. Sie gab mir noch einen Kuss, schenkte mir ein letztes Lächeln und ging wieder rein. Ihr langes rotes Haar glänzte im Licht der Hotellobby. Für einen Augenblick dachte ich, das eine Bier wäre ein Bier zu viel gewesen. Für einen Augenblick glaubte ich, an ihrem Rücken Flügel zu sehen.

***


Ich wachte auf. Ich hatte Schmerzen im Bein und in der Brust. Neben mir hörte ich das gleichmäßig Piepsen eines EKG-Gerätes. Neben meinem Bett saß Gaby. Die Augen waren gerötet, das Gesicht von Tränen überströmt.

Schlagartig stürmten Erinnerungen auf mich ein. Gaby und ich hatten uns gestritten. Weil Gaby mich mit einer alten Schulfreundin gesehen hatte. Ich war aus der Wohnung gestürmt, rannte auf die Straße und sah noch zwei Scheinwerfer auf mich zukommen. Danach war ich an der Hotelbar.

Als Gaby sah, dass ich wach war, brach sie erneut in Tränen aus. Sie kam zu meinem Bett und legte ihren Kopf auf meine Brust. Vorsichtig – es tat nämlich höllisch weh – griff ich nach ihrem Haar und streichelte ihren Kopf, um sie zu trösten.

„Ich war so ein Idiot“, heulte Gaby. Ja, Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.

„Ich war so ein Idiot“, wiederholte sie. „Ich hätte Dir glauben müssen. Du hast mich nie belogen.“

„Ist ja gut“, versuchte ich zu sagen. Es fiel schwer. Mund und Hals waren trocken wie die Wüste Gobi. „Ist ja gut.“

„Nichts ist gut!“ Gabys Heulen steigerte sich. „Wenn ich mich nicht zwanghaft mit Dir gestritten hätte, wärest Du nicht vor das Auto gerannt.“ Meine Süße schluchzte. „Bitte verzeih mir. Es tut mir so leid.“

Ich hielt weiter ihren Kopf. Natürlich verzieh ich ihr.

„Wo ist meine Hose?“, fragte ich.

Gaby sah erstaunt hoch. „Auf dem Stuhl. Aber …“

„Linke Hosentasche.“ Meine Stimme war nur ein Krächzen. Ich war sozusagen der Krähenkönig. Gaby nahm die Hose, griff in die Tasche und holte eine kleine Schachtel raus.

„Mach’s auf“, flüsterte ich. Gaby öffnete die Schachtel und sah den Ring, den ich ihr gekauft hatte. Ich drehte den Kopf, so weit es die Schmerzen zuließen.

„Willst Du meine Frau werden, Gaby?“