Edwin

 

Sandra stand vor dem Spiegel. Ihr Freund drängelte wie immer, ihre Zeit vor dem Spiegel waren für ihn mal wieder gefühlte 5 Stunden. Aber gut Ding will Weile haben. Außerdem waren es erst 48 Minuten. Woher sie das so genau wusste?

1.       Eine Frau weiß, wie lange sie vor dem Spiegel steht.

2.       Sandra arbeitet im Amt. Als Beamte ist frau immer korrekt.

3.       Sie hatte auf ihre Uhr gesehen.

Und Haare und Make-up kommen schließlich nicht von alleine in Ordnung. Die Frisur war unproblematisch. Einmal mit der Bürste durch die Haare gehen und links und rechts einen Zopfgummi einarbeiten. Das Make-up war komplizierter. Männer habe ja keine Ahnung. Eyeliner, Lidschatten, Wimperntusche, Lippenstift. Make-up ist eine Wissenschaft und eine Kunst. Und die Kerle wissen das nicht zu würdigen. Außerdem war sie ja fast fertig.

Sandra griff nach ihrer Theaterschminke …

***

Edwin öffnete seine Augen. ‚Wo bin ich? Wer bin ich? Was bin ich?‘ Edwin hatte keine Ahnung. Er sah sich um.

Vor sich sah er eine grüne Gestalt. Er wollte dem Geschöpf die Fragen stellen, die ihm durch den Kopf gingen, doch alles, was er herausbekam, war ein: „Quak?“

Erinnerungen kamen über ihn, wie die Wellen eines Ausflugsdampfers über ein Seeufer. Er war ein Frosch. Sein Name war Edwin. Blieb nur die Frage, WO er war. ‚Moment mal‘, dachte Edwin. ‚Ich bin also ein Frosch. Frösche sind grün.‘ Edwin war sich dessen sehr sicher. Schließlich weiß man selbst am besten, wie man aussieht. Wenn er also ein Frosch und die Gestalt vor ihm grün war, dann … dann dürfte das auch ein Frosch sein.

Edwin bewegte den Kopf nach links, um den Frosch gegenüber genauer betrachten zu können. Der andere Frosch folgte der Bewegung. Edwin bewegte den Kopf zurück, der andere Frosch auch. ‚Ah! Ein Spiegel!‘, fuhr es Edwin durch den Kopf. Er sah sich also selbst. Gut. Das löste das Rätsel des „Wo?“ aber noch nicht. Der kleine grüne Frosch zog nachdenklich die Stirn in Falten. Die Stirn? Haben Frösche eine Stirn? Jetzt dämmerte es. Edwin befand sich auf einer Stirn. Ein weiterer Blick in den Spiegel überzeugte ihn endgültig. Er befand sich auf der Stirn einer sehr hübschen jungen Dame.

Wie kommt ein Frosch auf die Stirn einer Frau? Der aufmerksame Leser hat es sicher erraten. Richtig, die Theaterschminke war schuld. Aber Edwin hatte natürlich keine Ahnung von Schminke. Er beschloss daher, in Ruhe darüber nachzudenken. Wenn man genug Geduld hat, kommen Antworten manchmal von ganz alleine.

Die Welt rings um Edwin bewegte sich plötzlich. Ihm wurde etwas schwindlig. Die Welt bewegte sich, aber er saß still. Oder bewegte doch er sich, ohne dass er es bewusst wahrnahm? Er hatte einmal gehört, dass alles relativ sei. Edwin konnte sich nie wirklich etwas darunter vorstellen. Wenn sich aber alles bewegt, während man selbst still sitzt, fangen solche Dinge plötzlich an, einen ziemlich bizarren Sinn zu ergeben.

Edwin hörte ein Geräusch. Es klang wie: „Was hast Du Dir denn da auf die Stirn gemalt?“ Aber Edwin war sich nicht sicher. Die menschliche Sprache, oder das was die Menschen als Sprache bezeichneten, war ihm fremd. Sie war vor allem ziemlich kompliziert. Menschen benötigen so viele verschiedene Laute, um zu kommunizieren. Froschkommunikation ist wesentlich einfacher. Für Frösche genügt ein einfaches „Quak“, welches je nach Intonierung, Betonung und Länge ca. 763.856 verschiedene Bedeutungen haben kann. Edwin wusste, dass die Menschen mindestens ebenso viele verschieden Laute brauchten. Bei verschiedenen Menschen hatten sogar verschiedene Laute die gleiche Bedeutung. Diese Redundanz wundert die Gelehrten immer noch. Genauso wie der Umstand, dass sich die menschliche Lautgebung über Jahrtausende in starkem Maße verändert hat. Die nächsten Verwandten der Frösche, die Orang Utans waren da leichter zu verstehen. Ihre Kommunikation ist der der Frösche ähnlich. Lediglich der Grundlaut ist anders. Statt des „Quak“ benutzen sie ein „Ook“. Das ist aber nicht viel schlimmer als die Dialektunterschiede zwischen Europäischen Laub- und Südamerikanischen Pfeilgiftfröschen.

Wenn Edwins Übersetzung korrekt war, war er also als Zeichnung auf die Stirn gekommen. Im Gegensatz zu Menschen interessiert Frösche das „Warum“ selten. Frösche mussten nicht wissen, warum bei der Fusion zweier Wasserstoffkerne Helium entstand oder warum bei der Kreuzung einer grünen mit einer gelben Erbse 3 von 4 Tochtererbsen gelb und nur eine grün war. Es genügte ihnen zu wissen, dass es so war. Aber es gab Ausnahmen. Das hier war eine Ausnahme. Edwin hätte schon gerne gewusst, WARUM zum Adebar diese Frau sich einen Frosch auf die Stirn gemalt hatte. Und warum ausgerechnet ihn?

Edwin entschloss sich, zunächst abzuwarten und zu beobachten. Jeder gute Wiesenforscher ging so an die Dinge heran. Das war Studiengrundwissen. Mit ein bisschen Glück konnte er eine Doktorarbeit darüber schreiben.

Ein helles Licht blendete Edwin. Er sah nach unten. Die Frau betrachtete offenbar mehrere eigentümliche Gebilde, von denen je zwei nebeneinanderstehende aussahen, als wären sie gespiegelt. Edwin erinnerte sich, von etwas gehört zu haben, das die Menschen wohl Schuhe nannten. Die Weibchen sollten angeblich einen besonders großen Vorrat von diesen „Schuhen“ haben. Edwin beobachtete, wie die Frau mehrere Exemplare an ihren Hintergliedmaßen befestigte und sie dann wieder abnahm. Dann schien sie sich für ein Paar entschieden zu haben. Nein doch nicht. Aber jetzt.

Die Welt setzte sich wieder in Bewegung. Ein Brett glitt vor Edwin zur Seite und es ging vorwärts. Nachdem sich die Welt ein Stück gedreht hatte, bewegte sie sich aufwärts. Oder Edwin abwärts. Das schien eher zu dem zu passen, was sein Gleichgewichtssinn meldete. Ein weiteres diesmal durchsichtiges Hindernis bewegte sich zur Seite, dann waren sie an der frischen Luft. Edwin atmete tief ein.

Es war warm. Ein herrlicher Sommertag. Edwin bemerkt, dass die Frau zu schwitzen begann. Nun zumindest war die Umgebung ausreichend feucht. Edwin musste sich also keine Gedanken machen, ob er vielleicht dehydrieren könnte.

Sie gingen in ein eigenartiges Haus, das sich zu bewegen schien. Scheinbar Hunderte dieser Menschen waren in dem Haus. Dem Lärm nach zu urteilen, den die Menschen machten, musste Paarungszeit sein. Es wunderte Edwin ein wenig, dass sich auch die Weibchen an den Paarungsgesängen beteiligten. Aber ihm diente schließlich nur seine Erfahrungen als Frosch als Referenz. Bei anderen Spezies mochte die anders sein. Eine Stimme links von ihm sagte etwas wie: „Ganz schön voll der Bus.“ Von vorne näherte sich ein menschliches Gesicht. Im Atem des Menschen schwangen eindeutig Ethanoldämpfe mit. Edwin wollte vor dem Gesicht in Deckung gehen, aber er konnte sich nicht bewegen. ‚Verdammt!‘, dachte er. ‚Wie auf einem Seerosenblatt.‘

Der Mensch entfernte sich aber wieder. ‚Puh, Glück gehabt.‘ Der Mensch hatte Edwin offensichtlich nicht bemerkt. Das fahrende Haus – der Bus, wie die Menschen es nannten – hielt an. Die Meute strömte aus dem Bus und auf eine Art große Felsöffnung zu. Was Edwin zunächst für eine Behausung hielt, entpuppte sich als riesiger Raum ohne Decke. Tausende und Abertausende Menschen waren dort und schrien. In der Mitte des Raumes entdeckte Edwin eine Wiese. Da würde er jetzt gerne sein. Aber er kam nicht von dieser verdammten Stirn weg. Mist!

Andererseits war es besser so. Plötzlich kamen 23 Menschen auf die Wiese. Zwei weitere liefen am Rand der Wiese auf und ab. Sie stritten sich um ein rundes Ding. Nur der Eine, dessen Körperfärbung sich von den anderen unterschied, schien der Kugel aus dem Weg zu gehen. Dafür machte er hin und wieder seltsam schrille Geräusche. Nach 47 Minuten verschwanden die Männer wieder, um eine Viertelstunde später wiederzukommen.

Die Menschen um Edwin herum schrien, was das Zeug hielt. Gelegentlich trat einer der Männer auf der Wiese die Kugel in Richtung eines Kastens mit einem Netz. Zweimal ging der Ball sogar rein. In diesen Augenblicken hätte der Lärm Edwin wohl die Ohren gekostet, wenn er welche gehabt hätte.

Obwohl solche Menschenmassen um ihn herum waren, bemerkte niemand Edwin. Fast wollte wäre er deshalb eingeschnappt gewesen. Aber ein guter Wissenschaftler lässt sich von so was nicht ablenken. Und nur sehr selten hatte bisher ein Frosch die Gelegenheit, die Spezies Mensch aus dieser Nähe zu beobachten.

Die Sonne schien Edwin unbarmherzig auf den Leib. Zum Glück gab es auf der schweißnassen Stirn der Frau genügend Feuchtigkeit.

Lärmend verließen die Menschen wieder den riesigen Raum. Die Rufe waren also keine Balzlaute. Es waren eine Art Kampfschreie. Nach einer weiteren Fahrt in einem dieser Busdinger ging „Edwins Frau“ in ein mit Holzlatten abgetrenntes Areal. ‚Ob das ihr Käfig ist?‘, fragte sich Edwin. Er erinnerte sich aber, dass Menschen eine weitgehend frei lebende Spezies sind.

„Schöner Garten“, hörte Edwin „seine Frau“ sagen. Langsam gewöhnte er sich an die seltsame Sprache der Menschen. Das war also ein Garten. Dann mussten die Holzdinger ein Zaun sein.

Edwin fand die verschiedensten Blumen, Sträucher und Bäume in dem Garten. Hier könnte er sich wohlfühlen. Aber er kam aber immer noch nicht von der Stirn runter. Langsam wurde er mürrisch. Und noch dazu war er der einzige Frosch weit und breit. Kein anderer Frosch da, mit dem man sich unterhalten konnte. Ganz zu schweigen von einer Fröschin.

Allmählich wurde es dunkel. Die Menschen saßen um eine große Holzplatte, Tisch genannt, aßen und unterhielten sich. Mücken schwirrten um Edwin herum. Er wollte ein paar der Mücken fangen. Edwin war hungrig, hatte er doch den ganzen Tag nichts gegessen. Aber so sehr er sich auch anstrengte, seine Zunge reichte nicht bis zu den Mücken. ‚Verdammt!‘, dachte Edwin bei sich. ‚Mit dieser Person muss ich ein ernstes Wort reden. Das nächste Mal kann sie wenigstens noch eine Fröschin und ein paar Fliegen auf ihre Stirn malen.‘

Aber Edwin hatte Glück. Es dauerte nicht lange, bis die Frau wieder vorm Spiegel stand. ‚Was für ein hübscher Frosch Du doch bist‘, dachte Edwin noch, als die Frau auch schon begann, Edwin wieder von ihrer Stirn zu wischen. Edwin dachte: ‚Endlich Feierabend. Nur noch zu Protokoll bringen, was ich gesehen habe. Und morgen mache ich mich an die Abhandlung über die Menschen. Wenn das keinen Preis einbringt …‘

***

Als Sandra am nächsten Morgen aufwachte, erinnerte sie sich bruchstückhaft an einen Traum. Ein Frosch hatte mit ihr gesprochen. Wenn sie das nächste Mal zu Fußball ging, würde sie sich zwei Frösche auf die Stirn malen: den von gestern und einen Frosch mit Spitzenröckchen.