Tagebuch eines Soldaten

 

Laaangweilig! Schulausflüge können so langweilig sein. Frank trottete hinter der Klasse her. Vor ihm waren weiße Kreuze, hinter ihm waren weiße Kreuze, links und rechts auch. Gibt es etwas Langweiligeres als einen Friedhof voller weißer Kreuze? Die Lehrerin erzählte irgendetwas über Männer aus einem Krieg, mit dem Frank überhaupt nichts anfangen konnte. Frank hörte auch nicht wirklich zu. Er reckte die Nase in die Luft und genoss die Sonne im Gesicht.

„Kannst Du nicht aufpassen?“

Frank war in Suzanne reingelaufen. „Sorry. Aber was bleibst Du einfach stehen?“

„Das Kreuz hier“, meinte Suzanne.

„Was ist damit? Is 'n weißes Kreuz wie die anderen hier.“

„Franz Bachmüller, 1. März 1897 – 13. September 1916“, las Susi vor, „Der war grade so alt wie mein Bruder.“

19 Jahre. Das war nicht das Alter, in dem Frank sterben wollte, das gab er zu. Aber es gab sicher noch andere hier, die genauso jung gestorben waren. Es war schließlich Krieg gewesen damals. Im Krieg sterben nun mal Menschen.

„Er war mein Urgroßonkel“, hörten sie eine Frauenstimme hinter sich.

Susi und Frank drehten sich um. Auf einer Decke saß eine rothaarige Frau und las in einem offenbar sehr alten Buch. Frank versuchte, einen Blick auf den Einband zu erhaschen, wollte wissen, wie das Buch heißt, das jemand mitten auf einem Friedhof las.

„Es ist sein Tagebuch“, erklärte die Frau lächelnd, als sie Franks Blick bemerkte. Für ihn klang das genauso langweilig wie der ganze Ausflug. Was konnte schon aufregend an einem alten Tagebuch sein? Suzanne aber wollte mehr über Franz Bachmüller erfahren.

Die Urgroßnichte des toten Soldaten. Lächelte wieder. „Setzt Euch!“, forderte sie die beiden auf. Frank wollte eigentlich weiter. Die Klasse war schon ein paar hundert Meter weiter. Aber er wollte Suzanne auch nicht einfach alleine lassen, auch wenn sie eine doofe Streberin und Einzelgängerin war. Also setzt er sich auch.

„Wenn Ihr wollt“, fuhr die Frau fort, „lese ich Euch ein bisschen aus dem Tagebuch vor.“

Frank blieb lieber still. Vielleich kam er ja aus der Nummer irgendwie wieder raus. Susi aber nickte wissbegierig.

***

„Gut“, begann die Frau, „Wo fange ich am besten an … Hier vielleicht:

‚3. März 1916

Wir haben heute den Marschbefehl nach Verdun erhalten. Morgen sitzen wir im Zug nach Westen. Endlich bekomme ich die Gelegenheit, für mein Vaterland zu kämpfen. Wir werden die verdammten Franzosen dort zum Teufel jagen. Willy meint, es wird schnell gehen. Er hörte, dass die Franzosen ständig neue Männer an die Front bringen müssen. Im Sommer, sagt er, sind wir vielleicht schon daheim bei unseren Lieben.

Ich habe Mutter, Vater und Elisabeth noch einen Brief geschrieben.‘“

„War Elisabeth seine Frau?“, fragte Suzanne neugierig dazwischen.

„Nein, sie war seine kleine Schwester, meine Urgroßmutter. Sie war 3 Jahre jünger als Franz“, antwortete die Frau und fuhr fort: „Wo war ich? Ach hier:

‚Mutter, Vater und besonders meine kleine Lisi sollen sich keine Sorgen machen. Gott ist auf unserer Seite und wird uns den Sieg schenken. Ich bete zu Gott, dass Willy recht hat. Vor allem aber dass er die Eltern und Elisabeth beschützen möge.‘

Die nächsten Einträge handeln von der Fahrt nach Verdun. Hmmm … ich denke hier ist ein guter Punkt um weiter zu lesen:

‚6. März 1916

Unsere Reise geht schleppend voran. Heute müssen wir Station machen. Der Hauptmann hat uns die Erlaubnis erteilt, für ein paar Stunden ein nahes Wirtshaus zu besuchen.

Das Essen und das Bier im Wirtshaus waren gut und die Schankmädchen recht hübsch. Willy machte einer von ihnen schöne Augen. Willy unser Frauenheld. Als sie freundlich zurücklächelte, wollte er einen Kuss von ihr. Willy sagte, dann könne er doppelt so gut kämpfen und auf dem Rückweg werde er wieder hier einkehren und ihr den Kuss zurückbringen. Das Mädchen lächelte, aber sie lehnte ab. Willy wurde wütend und wollte sich den Kuss nehmen. Aber ich hielt ihn ab.

Willy sagte, dass wir vielleicht nicht mehr lange auf Erden weilen werden. Da wollte er noch einen letzten Kuss. Nunmehr bekam er ihn. Das Mädchen sagte auch, sie werde für uns beten.

Inzwischen geht unsere Reise weiter. Übermorgen sollen wir an der Front ankommen. Dann wird es ernst. Gott gebe, dass Willy dem Mädchen den Kuss wiedergeben kann.‘

An der Front hatte mein Urgroßonkel wohl nicht so viel Zeit, in sein Tagebuch zu schreiben.

‚5. April 1916

Wir wurden abgelöst und haben ein paar Tage Ruhe. Die Franzosen erleiden schwere Verluste. Soweit wir sehen, kommen ständig neue Männer auf Seiten des Feindes. In unserem ersten Sturmangriff gelang es uns fünfzig von denen zu töten. Dann verschanzten wir uns, während die Geschütze hinter uns die feindlichen Stellungen unter Feuer nahmen.

Aber auch wir kamen nicht ungeschoren davon. 32 Kameraden fielen während des Sturms, 48 weitere in den Tagen danach. Dennoch, glaube ich, ist uns der Sieg sicher.

Ich erhielt heute einen Brief von daheim. Mutter, Vater und Elisabeth geht es gut. Mutter sorgt sich natürlich. Doch ich schrieb ihr, dass es mir gut gehe und ich unversehrt sei. Für den Augenblick bin ich nur müde. In den letzten Wochen bekamen wir nicht viel Schlaf.

Ich werde zu Bett gehen. Gott möge Mutter, Vater und Lisi schützen.‘

Lange hatte mein Urgroßonkel keine Ruhe.

‚11. April 1916

Wir sind wieder mitten im Kampf. Ich nutze eine kurze Feuerpause, um diese Zeilen zu schreiben. Die Franzosen habe einen Sturmangriff auf unsere Stellung versucht. Wir konnten sie zurückschlagen, doch nur unter großen Verlusten. 53 Mann sind von meiner Kompanie noch übrig. Willy fiel direkt neben mir. Eine Kugel traf ihn direkt in den Kopf. Er war sofort tot.

Gestern noch sagte er, wie sehr er sich freue, dem Schankmädchen den Kuss wiederzubringen. Und nun nahm er diesen Kuss mit ins Grab.

Als die Franzosen kamen, feuerten wir aus allen Rohren. Einen von ihnen tötete ich direkt vor mir aus nicht mehr als fünf Schritten Entfernung. Das letzte, was ich in seinen Augen sah, war Angst. Keine Angst vor mir, auch nicht vor uns Deutschen. Keine Angst vor unseren Gewehren. Nur einfache nackt Angst, zu sterben.

Er war nicht älter, als ich selbst. Jünger sogar, fast noch ein Kind. Und er starb durch meine Hand.

Ich bete zu Gott für seine Seele. Und möge Gott mir vergeben.

Unsere Stellung wird von französischen Geschütz…‘

Hier brechen die Bericht ab. Meine Urgroßmutter erzählte mir, dass Onkel Franz von einem Geschosssplitter getroffen wurde. Er verbrachte lange Zeit im Lazarett, bis er im August 1916 nach Hause kam. Es gibt nur noch einen Tagebucheintrag:

‚13. September 1916

Es ist Nacht und ich finde keinen Schlaf. Immer wenn ich schlafe, verfolgen mich Träume von Explosionen, Gewehrfeuer, von sterbenden und verwundeten Kameraden und von einem Jungen, der vor meinen Augen starb. Ein Junge, der durch meine Hand starb.

Ich bin müde. Ich sehne mich unendlich nach Ruhe und Schlaf. Ich wünschte, die Träume würden aufhören.

Bei der Explosion, die mich mein linkes Auge kostete starben so viele meiner Kameraden und Freunde. Und wir sind immer noch dort, wo wir im März waren. All die Kameraden, Willy, Heinz, Ernst Harald, starben umsonst. Sie starben ohne Sieg. Sie gingen für ihr Vaterland in einen sinnlosen Tod.

Ich bete zu Gott, dass er ihre Seelen in seinem Reich aufnimmt. Ich bete, dass der arme Junge in Gottes Reich Frieden fand.

Ich will schlafen.‘

Als meine Urgroßmutter am Morgen in den Garten ging, fand sie ihren Bruder am Apfelbaum hängend.“

***

„Er hätte froh sein sollen, dass er am Leben war“, meinte Suzanne nach einem Augenblick betrübt. „Er hätte anderen von seinen Erlebnissen erzählen sollen, statt sich das Leben zu nehmen.“

„Du hast nichts verstanden, Streberin!“, fuhr Frank sie an. „Er hat es erzählt. Und er hat sich nicht das Leben genommen. Der Krieg hat ihn getötet.“

„Ja“, sagte die Frau leise. Suzanne sah Frank verwundert ins Gesicht. Eine Träne rollte über seine Wange.