Ein Traum

 

Man hat es nicht leicht als Student. Es gibt zwar solche, deren Eltern jede Menge Geld habe, die sich keine Sorgen machen müssen, aber Mike gehört nicht dazu.

Geld … Mike musste sich etwas dazu verdienen. Also jobbte er als Nachtwächter. So ein Krankenhaus kann ziemlich gruselig sein. Besonders nachts. Die Patienten schlafen. Alles ist ruhig. Das Neonlicht flackert und Mikes Müdigkeit macht es nicht besser. Aber irgendwoher muss die Kohle ja kommen.

Manchmal passieren wirklich seltsame Dinge des Nachts im Krankenhaus. So wie neulich:

Mike hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Nervige Dozenten, deren Auftreten wahlweise dem aufgeregter Insekten und dem einer Schnecke auf Valium entspricht und Stoff, der einfach nicht in Mikes Schädel wollte. Und nun sollte er auch noch die ganze Nacht wach bleiben. Man hat es eben nicht leicht als Student.

Mike ging durch die Flure des Krankenhauses, um nach dem Rechten zu sehen. Wäre er sitzen geblieben, hätte ihn vermutlich bereits der Schlaf übermannt. Also bewegte er sich. Es bestand immerhin die Hoffnung, dass ihn die Bewegung wach hielt. Mike trottete durch den Hauptflur, als er ein Poltern und einen lautstarken Fluch hörte. Die Stimme gehörte einer Frau, wahrscheinlich der diensthabenden Nachtschwester. Und die Stimme klang trotz der unfeinen Worte irgendwie süß. Vielleicht konnte er ja irgendwie helfen. Immer noch besser, als auf einem unbequemen Stuhl einzuschlafen. Zumindest würde er sehen, wem die Stimme gehörte.

Mike rannte in den Aufenthaltsraum des Pflegepersonals. Er sah noch aus dem Augenwinkel eine hübsche Frau - Anfang oder Mitte 20 schätzte er – als er einen heftigen Schlag am Kopf spürte. Dann wurde es Nacht.

Als Mike erwachte, war alles um ihn herum schwarz. Man konnte die Hand vor Augen nicht sehen.
‚Wo bin ich?‘, dachte Mike. Es herrschte absolute Stille. Seine Augen müssten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnen, aber es war immer noch pechschwarz. Mike setzte sich auf. Kaum saß er einigermaßen aufrecht und rieb sich den schmerzenden Schädel, als er eine Glocke hörte. Es war eine große Glocke mit einem tiefen, fast bedrohlichen Klang. Nicht so eine kleine Bimmel, mit denen sich im Märchen klitzekleine Elfen ankündigen. Vor ihm wurde es heller. Ein Mann stand dort. Nein kein Mann. Ein wahrer Riese. Der Riese trug einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut. Die Augenlider waren schwarz geschminkt, wirkten fast wie leere Höhlen.

„Bin ich tot?“

„NEIN“, ertönte eine tiefe Stimme aus der Richtung, wo der Mann stand. Mit einem weiteren Glockenschlag erlosch das Licht.

„Verdammt!“ Das galt nicht dem Umstand, nicht tot zu sein, sondern Mikes Kopfschmerzen.

Mike stand auf, kämpfte einen Augenblick mit seinem Schwindelgefühl. Er versuchte, sich zu orientieren, ging einen Schritt und lief … Gegen einen Baum? Wo in Odins Namen kam mitten im Krankenhaus ein Baum her?

Mike griff sich wieder an den schmerzenden Kopf. Diesmal wurde ihm klar, warum alles schwarz war. Er nahm endlich das Tuch vor seinen Augen weg. Moment mal! Wieso hatte er den Typen mit dem Mantel und dem Hut gesehen, wenn seine Augen verbunden waren? Erstaunlich war auch, dass er mit verbundenen Augen zielsicher den einzigen Baum auf der großen Wiese traf, auf der er sich befand.

Wie um alles in der Welt kam er auf diese Wiese? Er wollte doch eigentlich der Nachtschwester … Seltsame Dinge gehen vor in einem Krankenhaus um Mitternacht. Um ihn herum summte es. Na herrlich! Auch noch Bienen auf der sonnenbeschienenen mitternächtlichen Wiese im Krankenhaus. Und das, wo er doch allergisch gegen die Biester ist.

Die Bienen sahen aber seltsam aus. Eher wie Schmetterlinge. Sie summten jetzt auch nicht mehr. Aber sie flüsterten. Sie schienen zu singen. Und sie glitzerten eigenartig.

Mike ging weiter. Vor einem Haus blieb er stehen. Mike wusste nicht, woher das Haus plötzlich kam, aber er hatte aufgehört, sich zu wundern. Mehrere der flüsternd singenden Schmetterlingsbienen tummelten sich an einem Wasserrad, welches sich eigentlich drehen sollte. Eigentlich. Mike war etwas verwundert, warum so viele dieser seltsamen kleinen Wesen, an einem so großen Haus ein Wasserrad umschwirrten. Er besah sich das Wasserrad.

Das Wasserrad schien eine Art Pumpe anzutreiben. Von der Pumpe oder was auch immer es war, gingen Rohre in den Garten hinter dem Haus. Nur Wasser kam nicht aus den Rohren. Der Garten war vollkommen vertrocknet.

Mike dachte nach. Das Wasserrad selbst schien in Ordnung zu sein. Die Welle, die es mit der Pumpe verband auch. Irgendwas musste er doch tun können! Schließlich studierte er Maschinenbau.

Mike steckte nachdenklich die Hände in die Hosentaschen. Nach einer Weile zog er sein Taschenmesser raus. Er hatte eigentlich nie eins besessen. Seine Mutter hatte Angst. So ein Taschenmesser ist gefährlich, ihr Goldsohn könnte sich wehtun. Und nun hatte er ein Schweizer Armeemesser und keine Ahnung, woher.

So ein Schweizer Armeemesser ist eine praktische Sache. Es ersetzt fast einen Werkzeugkasten. Mike klappte also den Schraubendreher aus und begann, die Schrauben am Pumpengehäuse zu lösen. Von Weitem wäre er nie auf die Idee gekommen, dass das Gehäuse dieser mittelalterlichen Pumpe geschraubt ist. Als er die Pumpe geöffnet hatte, sah er auch, was das Problem war. Kies blockierte die Pumpe. Das sollte doch wieder in Ordnung gebracht werden können! Mike entfernte den Dreck aus der Pumpe und drehte vorsichtig das Wasserrad. Es lief, er konnte das Pumpengehäuse wieder schließen. Zu seiner Verwunderung drehte sich der Schraubendreher von alleine. Aha! Ein Taschenmesser mit Akkuschrauber.

Mike sah sich noch einmal um. Die Pumpe lief, der Garten wurde wieder gewässert. Aber es würde nicht lange gut gehen. Mike entdeckte ein altes Sieb. Daraus ließ sich wunderbar ein Kiesfilter für das Ansaugrohr basteln. Fünf Minuten später war er fertig. Obwohl … Irgendwie hatte er nicht das Gefühl, dass fünf Minuten vergangen waren. Er wusste, es war so, aber es fühlte sich falsch an.

Die Tür des Hauses öffnete sich und eine wunderschöne Frau trat heraus. Sie hatte langes blondes Haar, blassrote Lippen, Augen wie Gletscher. Und Flügel? Jetzt erst merkt Mike, dass die Schmetterlingsbienen wie Miniaturausgaben dieser Frau aussahen. Mike glaubte nicht an Elfen. Doch er sah, was er sah.

„Danke für Deine Hilfe“, hörte Mike die Frau mit glockenheller Stimme sagen. „Du musst durstig sein. Komm in mein Haus und trink etwas!“

Jetzt erst fiel Mike auf, dass er tatsächlich Durst hatte. Oder hatte die Frau das getan?

Der Durst und die Neugier siegten über das Misstrauen. Mike folgte der Dame. Sie schenkte im Wasser ein. Das Wasser schmeckte seltsam. Süß wie Honig und doch gleichzeitig wie frisches Wasser aus einer kalten Bergquelle. Einen Hauch von Pfirsischgeschmack glaubte er auch zu entdecken.

Mike sah auf und blickte in das lächelnde Gesicht der Frau.

„Du hast mir einen großen Gefallen getan, Mike“, sagte die Frau.

„Ähh, woher kennen Sie meinen Namen?“ Mike wusste aber im gleichen Augenblick, dass die Frau Khalen war. Einen solchen Namen hatte Mike noch nie gehört aber sie konnte nicht anders heißen. Und sie schien auf eine besondere Art Macht zu besitzen. Wie eine Elfenkönigin.

Khalen lächelte nur. Sie wusste, dass Mike auch ihren Namen kannte.

„Du hast mehr getan, als nur eine Bewässerungsanlage zu reparieren, Mike“, sagte die Königin.

„Wie meinen Sie das?“ Mikes Verwirrung wurde nicht geringer.

„Du wirst es sehen“, antwortet Khalen. „Du siehst müde aus. Du solltest Dich ausruhen. Ich habe ein Zimmer, in dem Du ein wenig schlafen kannst.“

Das Haus war innen größer, als es nach dem äußeren Anblick sein dürfte. Die Elfenkönigin führte Mike in ein lichtdurchflutetes Zimmer. Mike ließ sich müde auf das große Bett fallen.

„Ich helfe Dir mit Deinen Sachen“, bot Khalen an.

Mike wollte ablehnen, doch die Königin war schneller. Sie zog Mike das T-Shirt über den Kopf (gehört zu seiner Nachtwächteruniform nicht ein Oberhemd?). Mike sah die Königin verwirrt an. Ihr Gesicht war direkt vor seinem. Er konnte ihren Atem spüren. Die Weichheit ihrer Lippen als sie ihn küsste. Khalen und Mike sanken in die Kissen …

***

Mike öffnete die Augen. Fast erwartete er schon dieselbe Dunkelheit wie vorhin. Aber es war hell. Neonlicht flackerte und zwei gletscherblaue Augen sahen ihn an.

„Was ist passiert?“

„Sie haben sich ordentlich den Kopf gestoßen, als Sie reinkommen wollten. Tut mir leid, es war meine Schuld. Ich habe Sie zu spät gesehen, sonst hätte ich die Tür nicht zugeworfen. Ich bin Irina, die Nachtschwester.“ Blassrote Lippen formten die Worte, umrahmt von langem blonden Haar.

„Ich bin Mike. Der NachtWÄCHTER“, antwortet Mike.

Irina lächelte. „Kommen Sie Mike, ich kümmere mich um Ihre Beule. Und nachher würde ich Sie gerne zum Frühstück einladen. Als Wiedergutmachen für die Sache mit der Tür.“

***

Als Mike und Irina beim Frühstück saßen, machte ihn ein Geräusch stutzig. Mike sah aus dem Fenster. Es regnete. Nein, es goss. Nach vier Wochen Hitze und Trockenheit fiel endlich wieder Regen. Plötzlich fiel Mike ein seltsamer Traum von einem Garten und einer nicht funktionierenden Pumpe ein.