Canis humanus - Das Tier im Menschen

 

Es war ein warmer Sommermorgen. Carlos rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er hatte schlecht geschlafen, aber so etwas kam immer wieder vor. Je voller der Mond wurde, desto unruhiger wurde sein Schlaf. Andererseits war er dann auch in der Lage, ohne größere Probleme die Nacht zum Tage zu machen.

Carlos Armando Sanchez, Sohn mexikanischer Einwanderer, arbeitete für das NYPD – das New York Police Department. Er war Tatortermittler. Seine scharfen Sinne waren schon fast legendär. Carlos fand kleinste Spuren, oft winzige Krümel nur. Einen Hauch von Parfüm, den jemand, der vor Stunden an einem Tatort war, hinterlassen hatte, nahm er wahr. In 9 von 10 Fällen konnte er sogar die Marke des Parfüms bestimmen. Niemand verstand, warum. Niemand kannte das Geheimnis, das hinter diesen verblüffenden Fähigkeiten steckte.

Wenn es nach Carlos ginge, sollte es ein Montag wie jeder andere werden. Ein oder zwei zu untersuchende Tatorte, ein bisschen Laborarbeit, zeitig Feierabend. Aber es geht nicht immer nach dem Willen der Menschen …

***

Jessica Nash packte ihre Sachen zusammen. Sie war zu einer Leiche gerufen worden. Sie sollte ausgerechnet Carlos Sanchez mitnehmen. Jessica wusste nicht, was sie von Sanchez halten sollte. Die Fakten sagten: Er ist ein hervorragender Ermittler. Allerdings kam ihr seine hohe Aufklärungsquote seltsam vor. Sanchez war kein schlecht aussehender Mann. Aber etwas an ihm verursachte eine Gänsehaut bei ihr. In seinen Augen lag etwas faszinierend Unheimliches. Aber gleichzeitig etwas unheimlich Faszinierendes.

Jess traf Sanchez am Ausgang des Kriminallabors.
„Guten Morgen, Detective Nash“, grüßte Carlos und nahm ihr höflich den Koffer ab.
„Ähh, guten Morgen, Sanchez“, stammelte Jessica. Sie arbeitete heute das erste Mal mit Sanchez zusammen und kannte seine Art und Weise nur vom Hörensagen. Aber bisher war sie angenehm überrascht. Noch keiner ihrer Kollegen war so höflich gewesen, ihren Koffer zu tragen. Sie kam sich sogar etwas schlecht vor, weil sie ihren Kollegen nur beim Nachnamen nannte, während er in vollendeter Höflichkeit „Detective Nash“ sagte.

Eine halbe Stunde New Yorker Rush Hour später waren Nash und Sanchez dann am Tatort. Jessica hatte Carlos auf dem Weg informiert: Leiche einer jungen Frau im Battery Park, um ca. 7.15 Uhr gefunden, sie sollten sich auf etwas gefasst machen. Auf das, was sie wirklich vorfanden, war Jessica aber doch nicht vorbereitet.

Carlos nahm Jessicas Koffer aus dem Wagen und folgte ihr zur Absperrung. Jessica stand wie angewurzelt da. Die Farbe war gänzlich aus ihrem Gesicht gewichen. Hätte sie nicht gestanden, hätte man sie für die Leiche halten können. Jess hatte in den 4 Jahren, die sie inzwischen bei der New Yorker Polizei arbeitete schon einige Leichen gesehen. Aber keine wie diese. Vor ihnen lag ein Körper, der nur noch schwer als der einer Frau zu identifizieren war. Die Tote war blutüberströmt und völlig zerfetzt, die Kehle war aufgerissen. Tiefe Kratzwunden überzogen das Gesicht, die grünen Augen waren weit aufgerissen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Carlos.

„Geht schon“, antwortete seine Kollegin nach ein paar Sekunden. „Die Todesursache scheint klar zu sein.“ Jessica versuchte, professionell zu klingen, die Worte leicht dahinzusagen. Aber ihre Stimme klang zittrig. Sie zog sich Handschuhe an, bückte sich über die Leiche und durchsuchte die Taschen. Sie fand, was sie suchte, öffnete die Brieftasche der Toten und nahm den Führerschein heraus.

„Samantha Newman“, las sie vor. „25 Jahre, aus Long Beach, Kalifornien. Wollte hier wohl Urlaub machen. Was in Gottes Namen ist hier passiert?“

Jessica sah zu Carlos hoch. Sie hatte gehört, dass er so gut wie nie eine Miene verzog, wenn er einen Tatort untersuchte. Etwas schien in ihm jedoch Besorgnis zu erregen. Carlos hob kurz den Kopf, als wollte er die Luft nach ihrem Geruch untersuchen. Plötzlich senkte er den Blick, sah sich auf der Wiese um.

„Das passt“, meinte er schließlich und zeigte auf den Boden. „Hier sind die Fußabdrücke eines Mannes. Daneben die eines Hundes. Das passt zu den Wunden.“

„Ich sehe nichts“, meinte Jessica. Carlos rückte zu ihr auf. Jessicas Blick folgte seinem Arm, dann sah sie es auch. Im Gras waren Schuhabdrücke. Es hätte sie wahrscheinlich Stunden gekostet, sie zu finden. Sie ging zu den Abdrücken und besah sie sich aus der Nähe. Dann entdeckte sie auch die Hundespuren. „Wie machen sie das?“, fragte sie Carlos.

„Ich konnte schon immer besser sehen als die meisten, Detectiv Nash“, erklärte der Mexikaner. „Und wenn man weiß, wonach man suchen muss, ist der Rest recht einfach.“

Diese Erklärung stellte Jessica zwar nicht zufrieden, aber für den Moment beließ sie es dabei. An der Leiche würde sie hier draußen nichts mehr finden. Sie ließ sie wegbringen und machte sich mit Carlos an die Spurensuche am Tatort selbst.

„Ich habe hier ein Haar“, informierte sie ihren Kollegen nach ein paar anstrengenden Minuten. „Sieht aus wie ein Hundehaar.“

„Es sollte eigentlich ein Wolfshaar sein“, meinte dieser. „Dem Geruch nach zu urteilen.“ Eine Feststellung, Jessica ein ungläubiges „Häh?“ entlockte.

„Jeder Canis lupus“, erklärte Carlos, „hat einen eigenen spezifischen Geruch. Hier riecht es nach einem Wolf.“

„Sind Sie sicher, dass Sie Mexikaner sind?“ fragte sie nach einem Moment ungläubigen Staunens. „Sie machen eher den Eindruck eines Mounties aus Kanada. Ich dachte, nur die können so was riechen.“

„Sagen wir mal so: Ich habe ein oder zwei kleine Geheimnisse. Aber haben Sie keine Furcht, Detective.“

Carlos‘ Höflichkeit ging Jessica allmählich ein bisschen auf die Nerven. Sie fühlte sich durch sein Benehmen etwas verunsichert. Sie sah ihm mit zusammengekniffenen Augen ins Gesicht. „Hören Sie, Mister. Ich habe nichts gegen Höflichkeit. Aber Sie übertreiben es. Hören Sie verdammt noch mal auf, mich Detective zu nennen. Mein Name ist Nash. Benutzen Sie ihn. Oder besser noch Jessica.“

„Gerne, Detec … Jessica. Mein Name ist Carlos.“

„Und hören Sie auf, sich zu benehmen, als kämen Sie aus dem 19. Jahrhundert“, fuhr Jess fort. „Beeindruckt mich nicht wirklich.“

„Ich bitte um Verzeihung, Señorita“, sagte Carlos lächelnd mit einem extra schweren spanischen Akzent.

***

Der Tatort gab nicht viel her. Die Fußabdrücke, ein paar Hundehaare (Carlos bestand darauf, dass sie einem Wolf gehörten) und zwei Fetzen Bonbonpapier. Jessica war alles andere als zufrieden. Mit den wenigen Spuren würde es sehr schwer sein, den Täter zu entlarven. Carlos war optimistischer, blieb die gesamte Rückfahrt über trotzdem sehr schweigsam. Etwas an diesem Fall bereitete ihm Sorgen. Wenn Jessica zu ihm sah, blickte er entweder aus dem Fenster oder auf seine Hände. Es war, als wisse er mehr über den Mord, wolle es aber nicht sagen.

***

„Wer macht denn so etwas?“, fragte Doc Morrison mit fröhlicher Stimme. Der Gerichtsmediziner war für seinen etwas morbiden Humor bekannt. Nichtsdestotrotz stahl sich ein Hauch von Entsetzen auf sein Gesicht, als die Leiche aus dem Battery Park sah. An seinen Assistenten gewandt fuhr er dennoch leichthin fort: „Ich nehme noch Wetten auf die Todesursache an.“

„Sie ist offensichtlich“, meinte Andrew Flow und wies auf die Wunden. Der Doktor schüttelte den Kopf und sah seinen jungen Schüler streng an. Doc Morrison hatte schon den einen oder anderen Praktikanten gehabt, der ihm assistierte. Bei Andrew hatte er aber das Gefühl, dass er sein Leben lang Assistent bleiben würde. Oder er würde Schönheitschirurg.

„Wann lernen sie endlich, sich nicht vom Offensichtlichen ablenken zu lassen? Hat einer der anderen Anwesenden einen Vorschlag?“

„Nun“, mischte sich Carlos ein, „der Grund für das Ableben der armen Frau ist offensichtlich.“

„Erheitern Sie uns!“, verlangte Morrison lächelnd. Er ahnte was jetzt kommen würde. Ein Vortrag über die schweren Wunden und, da es um Carlos Sanchez ging, darüber, wer oder was die Wunden schlug. Er sollte recht behalten.

„Die Tote hat multiple schwere Verletzungen an Thorax und Abdomen“, dozierte Carlos. „Die Kehle ist zerfetzt. Die Verletzungen weisen die Charakteristika des Angriffes eines Tieres auf. Brust und Bauch sind aufgerissen wie von Krallen. Am Hals sind deutlich Bissspuren zu erkennen. Sie stammen mit Sicherheit von einem Hund. Vielmehr von einem Wolf, um korrekt zu sein.“

„Danke, Detective“, unterbrach ihn der Doc, „aber sie machen den gleichen Fehler wie mein junger Lehrling hier.“ Er zeigte auf Andrew. „Vielleicht sollten wir die Tote doch erst untersuchen.“

Jetzt lächelte Carlos. „Verzeihung, Doktor. Diesmal lassen Sie sich vom Offensichtlichen verführen.“ Doc Morrison sah verwirrt auf. Sonst war er derjenige, der anderen einen Rüffel erteilte. Diese Situation war neu für ihn.

„Ich zählte das Offensichtliche auf“, fuhr Carlos fort, „sagte aber nicht, dies sei die Todesursache. Solch schwere Verletzungen, besonders die an Bauch und Brust, gehen normalerweise mit stark spritzenden Blutungen einher. Wir fanden am Tatort Blutspritzer. Ihr Muster war jedoch nicht jenes, das hier zu erwarten gewesen wäre. Es waren relativ wenig Spritzer. Das Blut wurde bei der Tat vom Mörder selbst verspritzt. Die Blutungen, die wir hier sehen, entstanden durch – nun ja – einfaches Auslaufen des Blutes. Die Verletzungen wurden der Verstorbenen post mortem beigebracht. Mangels entsprechend schwerer Verletzungen am Schädel würde ich auf ein gebrochenes Genick tippen.“

Carlos hatte bei seinen Ausführungen sogar die trockene, beinahe gefühllose Art des Gerichtsmediziners übertroffen. Jessica grinste. In den 4 Jahren, die sie beim Department war, hatte es niemand geschafft, nicht nur einer Bloßstellung durch Doktor Edward Morrison zu entgehen, sondern den Spieß umzudrehen. Sanchez war der Erste. Doc Morrison schwieg mit geöffnetem Mund. Nach zehn Sekunden Stille schickte er Jessica und Carlos schließlich aus dem Raum. „Wenn Sie recht haben, Mr. Sanchez, spendieren ich Ihnen eine Kiste Tequila. Oder ich sollte ich vielleicht empfehlen, Ihre psychische Gesundheit überprüfen zu lassen?“

„Danke Doktor“, erwiderte der Mexikaner im Gehen, „ich fühle mich ausgesprochen wohl. Wenn Sie statt Tequila aber eine Kiste Rum nehmen würden, wäre ich Ihnen dankbar.“

***

„Wir suchen also“, erkundigte sich Jess bei Carlos, „einen Mann, der einer Frau das Genick bricht und dann seinen Hund auf sie hetzt?“

„Möglicherweise“, war die etwas zögerliche Antwort. „Das Genick könnte durchaus beim Angriff des Tieres selbst gebrochen sein.“

Jessica stellte sich Carlos in den Weg und beobachtete ihn mit scharfem Blick. Der Mexikaner versuchte, ihren Blicken auszuweichen. „Was ist los?“, fragte sie. „Sie haben so was schon gesehen, richtig?“

Carlos schwieg. Er sah Jessica einen Augenblick lang an und ging an ihr vorbei. Etwas machte ihm Angst. Er war nicht der Typ, der Angst hat. Dennoch fürchtete er sich vor etwas. Was es auch war, Jess würde es herausfinden.

***

Es war Mitternacht. Carlos stand allein auf der Straße. Vor ihm lag ein toter Mann. Carlos konnte nicht erkennen, wer es war. Schmerzen durchzuckten seinen Körper. Carlos krümmte sich nach vorne. Er hörte das Reißen von Stoff, fühlte eine lange Haarsträhne in seinem Gesicht …

***

… und schreckte aus dem Schlaf.

Carlos atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Er hatte diesen Traum öfter. Besonders in den Nächten vor dem Vollmond. Doch diesmal war etwas anders gewesen. Carlos hatte eine Gestalt gesehen. Es behaarter Mensch mit krummem Rücken. Er schien beinahe auf allen Vieren zu laufen. Seine Nase sah ungewöhnlich groß aus. Die Gestalt stand am Ende der Straße und sah Carlos in die Augen.

Der Schmerz war aber nicht nur im Traum vorhanden gewesen. Carlos Rücken und Beine fühlten sich verspannt an, als hätte er in der Nacht pausenlos Gewichte gestemmt. Carlos sah auf seine Hände, als erwarte er jeden Augenblick, sie würden sich in fürchterliche Klauen verwandeln.

Er hatte jedoch keine Zeit, seine Gedanken weiter zu verfolgen. Carlos war gerade auf dem Weg ins Badezimmer, als das Telefon klingelte.

„Sanchez?“, fragte Carlos so verschlafen, als wäre er die halbe Nacht um die Häuser gezogen.

„Nash. Sie sind endlich wach?“ Carlos sah auf den Wecker. „Verdammt!“ rief er. Er hätte vor einer Stunde im Dienst sein müssen.

„Klingt, als hätte ich gerade Ihre Lebensgeister geweckt, Carlos“, flötete Jessica freundlich aber amüsiert ins Telefon. „Dann können Sie sich die Zähne putzen, etwas anziehen und gleich nach Central Park South kommen.“

„Central Park South?“

„Ja“, kam durch das Telefon, „männliche Leiche. Ich rate mal: Die Todesursache sind nicht die multiplen Verletzungen an Thorax und Abdomen. Auch nicht die zerfetzte Kehle.“

Carlos stöhnt. Sein Kopf pochte unangenehm, obwohl er gestern Abend gar nichts getrunken hatte. „Ich bin unterwegs“, sagte er schließlich.

***

Jessica hielt ihm einen Becher Kaffee hin, als Carlos den Tatort erreichte.

„Danke.“ Das Koffein würde ihn wach machen. Hoffentlich. „Der Mann lebte noch, als ihm die Wunden beigebracht wurden“, sagte er schließlich, nachdem er den halben Becher geleert und sich dabei umgeschaut hatte.

„Die Spritzmuster“, bestätigte Jessica. „Der Doc hat Ihnen übrigens eine Kiste kubanischen Rum ins Büro gestellt. Sie lagen richtig. Haben wir zwei Täter oder einen Täter mit zwei Hunden?“

„Der Mann hier ist etwas kräftiger gewesen als die Frau von gestern. Deshalb brach das Genick nicht.“ Carlos hielt die Nase in die Luft. „Gleicher Mann, gleicher Wolf“, konstatierte er schließlich.

„Sie sehen beschissen aus, wenn ich das so sagen darf“, sagte Jess ihm direkt ins Gesicht. „Kurze Nacht?“

Carlos schüttelte den Kopf. „Schlechter Schlaf in letzter Zeit. Heute ist Vollmond. Das schlafe ich immer schlecht. Haben wir von gestern was aus dem Labor?“

„Die Haare stammen tatsächlich von einem Wolf. Genauso wie die Hautspuren, die der Doktor unter den Nägeln des Opfers fand. Aber die DNA ist merkwürdig.“

„Merkwürdig?“ Carlos krampfte sich ein bisschen der Magen zusammen. Er fürchtete zu wissen, was an der DNA so merkwürdig war.

„Es war Wolfs-DNA. Sie enthielt aber auch Anteile menschlichen Erbguts. Als wäre es ein Hybride aus Mensch und Wolf.“

Manchmal hätte Carlos lieber unrecht. Er drehte sich weg und sah gen Himmel. „Ein Werwolf.“

„Werwölfe sind Legenden“, meinte Detective Nash und fügte sarkastisch hinzu: „Sie wollen doch jetzt keine Silberkugeln für unsere Waffen bestellen, oder?“

Als Carlos sich umdrehte, sah Jessica Panik in seinen Augen. Er schien zu glauben, was er sagte. Bevor sie etwas sagen, sich für ihren Sarkasmus entschuldigen konnte, griff Carlos fest nach Jessicas Hand. „Silberkugeln? Das sind Märchen. Sie schauen zu viele schlechte Filme, Jessica. Bitte seien Sie vorsichtig. Und melden Sie mich bitte krank für heute. Ich fühle mich in der Tat nicht wohl.“

Carlos ließ Jessicas Hand los und ging. Als er sich umdrehte, steckte er sich seinen Zeigefinger in den Mund als hätte er sich gekratzt.

Jess kam Carlos‘ Verhalten seltsam vor. Wovor hatte er Angst? Der Mexikaner wusste mehr als er zugab. Und sein Griff war ungewöhnlich stark gewesen. Er hatte ihr nicht wehgetan, aber es war unmöglich gewesen, sich seiner Hand zu entziehen. Jessica würde der Sache auf den Grund gehen.

***

Nach einer Stunde Spurensicherungsarbeit am Tatort – Carlos hatte recht gehabt, es war einfach, wenn man wusste, worauf man achten muss – saß Jessica im Labor. Die Geräte um sie surrten und sie konnte nur warten. Oder das Rätsel um Carlos lösen.

Welche Anhaltspunkte gibt es? Carlos schien Verletzungen wie die an den Leichen von gestern und heute schon gesehen zu haben. Und er war einzelgängerisch, fast ängstlich im Umgang mit anderen Menschen. In seinen Augen lag vorhin nackte Panik. Alles deutete auf ein früheres traumatisches Erlebnis hin. Aber was? ‚Gesegnet sei das Internet und seine Suchmaschinen‘, dachte Jessica und machte sich an die Arbeit.

Als sie anfing zu tippen, fiel ihr ein Blutfleck an ihrem Ring auf. Sie hatte sich nicht verletzt. Vielleicht hatte sie eine Spur vom Tatort mitgeschleppt, ohne es zu bemerken. Jess nahm etwas vom Blut am Ring ab und gab es zur DNA-Analyse.

‚Weiter mit dem Rätsel um Carlos!‘ Jessicas Neugier war nach dem Vorfall am Tatort geweckt. Nach einer Stunde wurde sie fündig. Ein fünfzehn Jahre alter Artikel aus einer mexikanischen Zeitung zeigte den jungen Carlos und einen Toten, der in einer Weise zugerichtet war, wie sie es in den letzten zwei Tagen zweimal gesehen hatte.

„Mein Gott!“, entfuhr es Jessica. Wie angewurzelt saß sie an ihrem Schreibtisch. Da nahm sie den Telefonhörer und wählte die Nummer von Carlos‘ Handy.

Es klingelte. Einmal, zweimal … zehnmal. Carlos ging nicht ran. Jess stand auf. Auf dem Weg nach draußen bat sie noch, sie anzurufen, wenn die Analyse des Blutes fertig ist.

***

Carlos lag auf seinem Bett. Sein Handy hatte er ignoriert. Aber jetzt klingelte jemand Sturm an der Tür. Die Zeugen Jehovas sind nicht so aufdringlich. Brandgeruch lag auch nicht in der Luft. Also konnte es nicht die Feuerwehr sein. Nachdem jemand eine geschlagene Viertelstunde Geduld aufgebracht hatte, bei ihm zu klingeln, ging Carlos widerwillig zur Tür. Als er die Tür öffnete, glaubte er einen Moment, er hätte doch länger durchgehalten, sah dann aber Jessica, die gerade gehen wollte.

„Gott sei Dank“, sagte Carlos‘ Kollegin etwas ungeduldig. „Darf ich reinkommen?“

Eigentlich wollte Carlos etwas Ruhe. „Klar“, sagte er trotzdem. „Wollen Sie ‘nen Kaffee?“

„Nein danke“, meinte Jessica, „Antworten reichen mir schon.“

Carlos sah Detective Nash in die Augen. Nein, Ausflüchte hatten wohl keinen Sinn. „Sie haben von meinem Onkel gelesen.“ Keine Frage. Eine Feststellung.

„Ja, habe ich.“ Jessica klang streng. „Sie hätten es mir sagen müssen, Carlos.“ Jessica übersah den Schmerz in seinen Augen nicht. Sie fuhr sanfter fort: „Sie hatten eine Ahnung, richtig? Es ist vielleicht der gleiche Täter wie bei Ihrem Onkel.“ Als Carlos schwieg, fügte sie hinzu: „Habe ich recht?“

„Es ist vielleicht meine Schuld!“ Die Augen des Mexikaners füllten sich mit Tränen. „Ich fand meinen Onkel auf der Straße. Er war übel zugerichtet. Sie haben die Bilder gesehen. Überall an meiner Kleidung war Blut. An meinen Händen war Blut. Ich weiß bis heute nicht, wie ich zu dieser Straße kam. Ich weiß nur, ich stand plötzlich vor ihm. Und der Vollmond schien.“

„Der Mord wurde nie aufgeklärt?“

„In Mexiko vor 15 Jahren?“, fragte Carlos bitter. „Wo denken Sie hin? Ich fürchte, selbst diese Morde werden nicht aufgeklärt. Und wenn doch, glaubt niemand, was herauskommt. Sie kennen die Ergebnisse der DNA-Analyse: Wolf-DNA gepaart mit der eines Menschen. Sie haben es gesehen. Glauben Sie, was Sie gesehen haben?“

„Ich nehme an, die Probe war verunreinigt.“ Eine Wolf-Mensch-Hybride war vollkommen unmöglich.

„Die Probe war sauber“, stellte Carlos klar. „Ich brauche etwas Zeit alleine, Jessica. Ich erkläre es Ihnen irgendwann. Sie haben mein Wort darauf.“

***

Der Rest des Tages brachte keine neuen Erkenntnisse für Jessica. Das genetische Material aus dem Blut, das an ihrem Ring geklebt hatte, war wie erwartet eine Mischung aus Wolf und Mensch. Sie wollte es mit den Ergebnissen der Haaranalyse des Vortages vergleichen. Aber die waren nirgends aufzutreiben. Sie suchte überall im Labor. Sogar im Leichenschauhaus sah sie nach, obwohl es sehr unwahrscheinlich war, dort etwas zu finden. Der Doktor war nicht da, nur sein Assistent. Dieser wusste von nichts. Jessica hoffte nur, dass das nicht hieß, morgen die nächste entstellte Leiche zu finden.

Es wurde ein ziemlich langer Tag. Um ein wenig runterzukommen, beschloss Jessica noch einen Drink zu nehmen. Sie saß im MacGregor’s, ihrer Lieblingsbar, über einem Bier und grübelte. Es war schon deshalb ihre Lieblingsbar, weil hier keine anderen Polizisten ihren Feierabend verbrachten. Hier konnte sie entspannen und wurde nicht von jedem Anwesenden an die Arbeit erinnert. Nur heute fand sie keine Ruhe.

Irgendetwas nagte an Jessicas Gemüt. Sie hatte irgendetwas übersehen. Etwas war direkt vor ihrer Nase und sie sah zielsicher hindurch. Die Blutprobe gehörte offenbar dem Täter. Oder hatte mit ihm zu tun. Wenngleich sie sich sicher war, dass das Ergebnis unmöglich war. Es gab einfach keine Hybriden aus Mensch und Wolf. Gedankenverloren spielte sie an ihrem Ring, drehte in hin und her. Plötzlich formte sich ein Gedanke und wuchs in ihrem Kopf zu etwas heran, was sie lieber nicht wahr haben wollte: Das Blut, das am Morgen am Tatort gefunden wurde, gehört dem Opfer. Sie konnte also keine Spur auf ihren Ring übertragen haben. Carlos wiederum hatte sie an der Hand festgehalten und schien sich dabei am Ring gekratzt zu haben. Es musste also sein Blut gewesen sein. Erschrocken hob sie den Kopf. Wenn das wahr war …

Alles passte. Das genetische Material einer Mischung aus Mensch und Wolf im Blut ihres Kollegen, die Haarprobe vom Vortag verschwunden … Carlos hätte sie verschwinden lassen können. Dazu sein seltsames Verhalten. Das konnte nicht sein! Oder doch?

Jessica bezahlte ihr Bier, trank den letzten Schluck aus und ging. Nein, es gab keine Werwölfe! Mythen, Legenden und Märchen. Es musste eine logische, wissenschaftliche Erklärung geben. Vielleicht waren die Proben doch verschmutzt gewesen. Aber sie hatte die Blutprobe eigenhändig von ihrem Ring genommen und zur Analyse gegeben.

Jessica war gerade 10 Minuten gegangen, als sie ein tiefes Knurren hörte. Vor ihr sah sie eine Gestalt, die all ihr Wissen Lügen strafte. Es war offensichtlich ein Mensch. Aber er ging gebeugt. Da, wo im Gesicht die Nase und der Mund sein sollten, sah Jessica etwas, das entfernt dem Maul eines Hundes oder Wolfes glich. Der Körper war von einem hellgrauen Fell bedeckt.

Das Wesen kam knurrend und mit geleckten Zähnen auf sie zu. „Es gibt keine Werwölfe!“, rief Jessica laut. Aber sie sah, was sie sah. Erinnerungen an das, was Carlos ihr erzählt hatte, stiegen auf. Carlos war der Mörder, er war dieses Untier. Es gab nichts, das einen anderen Schluss zuließ.

„Carlos!“, rief Jessica. Die Antwort war ein weiteres Knurren. Jessica zog ihre Dienstwaffe. „Carlos, wenn Sie mich verstehen können, bitte! Hören Sie auf! Ihr Geheimnis ist bei mir sicher. Ich werde …“

Mehr konnte Jessica nicht sagen. Der Wolfsmensch sprang auf sie zu und versenkte seine Zähne in ihrer Kehle.

***

Jessica Nash stand mit vor Schrecken geweiteten Augen an einem Laternenpfahl. Sie hatte nicht richtig sehen können, was geschehen war. Alles, was sie mitbekam, war ein Schatten, der von der Seite angeflogen kam. Im nächsten Moment sah sie zwei dieser Wolfswesen. Sie belauerten sich, kreisten umeinander, jedes Biest zum Angriff bereit.

Das zweite Tier war größer als der Wolf, der sie angegriffen hatte. Sein Fell war dunkler. Der kleinere Werwolf sprang mit einem plötzlichen Satz in die Höhe und stürzte sich auf seinen Gegner. Dieser reagierte mit einem Hieb und schickte den Grauhaarigen direkt aus dem Sprung zu Boden. Der Dunkle wartete nicht ab, bis sich sein Gegenüber wieder erhob. Er sprang auf ihn und zerfetzte die Kehle des kleineren Werwolfes. Blutüberströmt ließ er von ihm ab, als er sich nicht mehr regte.

Jessica verstand nicht, was hier vor sich ging. Der große Wolf hatte ihr das Leben gerettet. Aber warum? Sie zielte mit ihrer Pistole auf den Wolf. „Keine Bewegung!“, wollte sie rufen. Mehr als ein Flüstern bekam sie nicht heraus. Zu ihrem Erstaunen machte das Untier aber keine Anstalten, auf sie loszugehen. Statt dessen hob es den Kopf und heulte. Langsam richtete sich der Wolf auf. Er streckte die Arme von sich. Während die Beine gerader wurden, die Wolfsschnauze sich in ein Gesicht verwandelte und die Gestalt immer mehr zu einem Menschen wurde, wurde aus dem Heulen nach und nach ein lang gezogener Schrei.

Jessica zielte immer noch panische auf den Mann. „Sind Sie in Ordnung?“, hörte sie eine Stimme durch den Schleier ihrer Angst. Jessica reagierte nicht.

„Sind Sie in Ordnung, Detec … Jessica?“, fragte Carlos erneut.

„Carlos?“ Jessica konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Ich dachte, sie wären der Werwolf!“

„Ich bin ein Werwolf“, antwortete Carlos. Es fiel ihm nicht leicht. Aber Leugnen hätte keinen Sinn gehabt. Außerdem fühlte er sich irgendwie erleichtert, dass er es jemandem sagen konnte.

„Ich dachte, Sie hätten die Opfer von gestern und heute Morgen getötet.“

„Nein, ich hätte meinen eigenen Geruch erkannt. Außerdem habe ich die Sache unter Kontrolle. Ich verwandle mich nicht mehr ungewollt, nur weil Vollmond ist.“

„Wie“, hakte Jessica nach, „haben Sie mich hier gefunden? Niemand weiß, dass ich gelegentlich ins MacGregor’s gehe. Und wer ist der andere Wolf? Wer hat die Proben von gestern verschwinden lassen? Wie …“

Carlos legte ihr lächelnd den Finger auf den Mund. „Ich versprach Ihnen, alles zu erklären. Mir fiel heute Morgen am Tatort der gleiche Geruch auf, den ich schon gestern im Battery Park bemerkte. Ich nahm den gleichen Geruch auch gestern bei Doc Morrison wahr. Der Doktor arbeitet schon zu lange hier, um verdächtig zu sein. Aber Andrew Flow nicht. Er ist seit einem knappen Monat hier. Ich dachte erst, der Geruch in der Autopsie käme von Spuren an der Leiche. Er war jedoch zu stark, um von der Toten zu kommen. Dann fiel mir ein, dass ich diesen Geruch schon einmal in der Nase hatte. Vor ziemlich genau 15 Jahren.

Ich hatte eine Idee, der ich folgte, nachdem sie mich zu Hause verlassen hatte. Ich beschäftigte mich auf einen wagen Verdacht hin mit Andrew Flow. Es gab ihn nicht, bis er zu uns kam. Ich war mir nicht sicher, was mit Flow nicht stimmte. Bis ich zur Seite sah. Die Akte lag neben einem Spiegel. Dort sah ich seinen Namen.

Wie ich sie gefunden habe? Ich bin Ihnen gefolgt. Ich war besorgt um Sie. Und wenn mein Verdacht richtig wäre, war die Chance groß, dass Flow versuchen würde, Sie aus dem Weg zu räumen, bevor Sie sein Geheimnis entdecken.“

„Andrew Flow ist der Mörder?“ Jessica mochte Flow nicht. Aber sich diesen oberflächlichen, arroganten Schnösel als eine solche Bestie vorzustellen, übertraf doch ihre Fantasie. Carlos wies nur nach rechts. Andrew Flow lag auf der Straße. Seine Kehle war zerrissen. Er war tot.

***

Carlos lud seine Kollegin auf noch ein Bier ein. ‚Eigentlich ist er wirklich nett‘, dachte Jessica. ‚Vor allem, wenn man sein Geheimnis kennt.‘

„Ich weiß Ihr Vertrauen wirklich zu schätzen“, sagte der Mexikaner. „Besonders da Sie nicht wissen können, ob ich nicht doch die Bestie vom Battery- und vom Central Park bin.“

Jessica lächelte. „Flow hatte etwas Verschlagenes im Blick. Sie nicht. Ich weiß, dass Sie es nicht waren.“

„Wie können Sie da sicher sein?“, fragte Carlos neugierig. Er wollte einfach, dass es keine Missverständnisse gab. Carlos brauchte das Vertrauen seiner Kollegin.

„Sie haben Andrew Flow nur die Kehle durchgebissen“, antwortete Jessica. „Die anderen beiden Opfer waren völlig zerfetzt. Außerdem …“ Sie machte eine kleine Pause und fuhr dann mit einem unsicheren Lächeln leise fort: „Außerdem fühle ich es.“